Einführung in den Podcast und Vorstellung des Gastes
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Speaker
20 Blue Minutes, der kleine Podcast vom Research Institut 20 Blue. Hallo, mein Name ist Anja Mutschler von 20 Blue und ich habe da mal eine Frage. Und zwar an Volker Weichsel. Hallo, Herr Weichsel. Hallo, ich grüße Frau Mutschler. Wunderbar. Herr Weichsel, ich spreche mit Ihnen heute im Rahmen meines Features zu Putins Krieg.
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Speaker
nenne ich das und sie sind bei der Zeitschrift Osteuropa tätig, was ich unglaublich spannend finde als Hintergrundgespräch. Ich sammle ja verschiedene Stimmen und Perspektiven ein, um diesem, wie ich finde, sehr komplexen Thema gerecht zu werden, das uns jetzt
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Speaker
Ja, weil er schon 30 Tage in Artenheld beschäftigt, erschreckt, entsetzt. Und ich bekomme jetzt Ausgesprächen von einem Russen, der ja fliehen musste tatsächlich. Ich werde noch mit einem Journalisten sprechen in Kiew.
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Speaker
Ich habe mit einem Islamwissenschaftler gesprochen und freue mich jetzt auch mit Ihnen zu sprechen, mit Blickwinkel auf Osteuropa. Und vielleicht wollen Sie zum Anfang einmal ganz kurz erläutern, was Ihre Zeitschrift tut, mit welcher Perspektive Sie auf Osteuropa blickt.
Rolle und Bedeutung der Zeitschrift Osteuropa
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Speaker
Die Zeitschrift ist ein absoluter Zwitter und eine eierlegende Wollmilchsau, denn sie ist von den Medien her eigentlich eine gedruckte Monatszeitschrift, die seit 100 Jahren erscheint. Sie ist gleichzeitig in den aktuellen Fragen und Debatten hoch präsent. Sie liefert Hintergrundanalysen,
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Speaker
zu dem gesamten Raum vom Baltikum bis auf den Balkan, von Ost-Mitteleuropa, also Tschechien, Polen, Slowakei und Ungarn, bis nach Zentralasien mit den Schwerpunkten Russland, Ukraine, Belarus, Polen. Und sie ist eben medial schnell,
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Speaker
Online, sie ist schriftlich vertiefend, Hintergrundanalysen und sie ist eine ganz kleine Redaktion mit drei
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Speaker
Menschen, die wir sind und einem Team von freien Mitarbeitern außenrum. Die Sprache der Länder, über die wir berichten, der Kontakt unmittelbar mit Wissenschaftlern, Journalisten, Menschenrechtlern aus den Ländern, der Dialog mit ihnen, also nicht nur die Analyse über die Länder, sondern auch der Dialog mit den Ländern stehen im Zentrum der Zeitschrift.
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Speaker
Und da muss man natürlich jetzt vor dem aktuellen Hintergrund sagen, dass der Dialog mit Russland als Staat und staatlichen Institutionen und selbst staatlichen Bildungseinrichtungen, Universitäten seit vielen, vielen Jahren immer schwieriger wird. Selbstverständlich haben wir in großer Zahl weiter Wissenschaftler
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Speaker
aus Russland oder gebürtig aus Russland oder deren Mutter und Wissenschaftssprache das Russische ist. Aber viele, viele davon waren in den letzten Jahren bereits stark bedroht, haben nur, weil sie mutige, integre Menschen sind, noch schreiben können im Ausland in der Übersetzung. Und viele, viele sind jetzt in die Emikration gegangen.
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Speaker
Ja, da können wir gerne nachher nochmal ein bisschen vertiefend drüber sprechen. Ich würde zum zweiten für meine Hörerinnen und Hörer am Anfang ganz gerne einmal hören.
Entwicklung des Verständnisses Osteuropas im Laufe der Zeit
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Speaker
Sie haben es ein bisschen angedeutet. Was ist der geografische Rahmen Osteuropas? Was ist der kulturelle Bezugspunkt?
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Speaker
Wenn Sie sagen, das Ganze gibt es seit 100 Jahren, würde mich natürlich auch sehr stark interessieren, hat sich für diese Zeitschrift Osteuropa die Grenze in diesen 100 Jahren verschoben. Das Ganze natürlich mit Blick auch auf den Aufsatz, den Putin im Sommer geschrieben hat zum Thema Großrussland, den haben Sie wahrscheinlich auch gelesen.
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Speaker
Ja, den haben wir in der Zeitschrift auch früh veröffentlicht in einer wirklich ausgearbeiteten Übersetzung. Also nicht deep und nicht mal schnell von dpa, sondern wirklich in einer fundierten Übersetzung.
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Speaker
Also in der Tat, über 100 Jahre hat sich der Bezugsraum Osteuropa in Deutschland sehr stark verändert, was das eigentlich bedeutet. Und die Zeitschrift ist insgesamt in ihrer gesamten Geschichte ein Spiegel der Geschichte dieses gesamten 20. und jetzt auch schon ein Fünftel des 21. Jahrhunderts.
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Speaker
Und das bedeutet, dass in den Anfangsjahren, in den 1920er Jahren, war Osteuropa noch in den Köpfen gleich mit Russland. Es musste überhaupt erst mal ankommen, dass das Russische Reich zur Sowjetunion geworden war. Und dann war Osteuropa im Grunde gleich mit der Sowjetunion. Und das hat sich in den Jahren
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Speaker
dann immer stärker in die Richtung entwickelt. Osteuropa, das ist der Raum der kommunistischen Herrschaft. Und das bedeutet tatsächlich, dass in den 50er und 60er und noch bis in die 70er Jahre hinein vereinzelt auch Artikel
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Speaker
über Vietnam oder auch über Kuba erschienen sind. Also die geografische Richtung Osteuropa ist ja ohnehin nur von einem relativen Standpunkt ausgedacht, der immer seine Fragen hatte, wenn man von Berlin aus nach Osten geht, dann kommt man nicht nach Prag, sondern Prag liegt im Südwesten, war aber politisch zur Zeit des Ost-West-Konflikts im Osten.
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Speaker
Und dann kam 1989 bis 1991 der Zusammenbruch des Kommunismus, die Implosion der Sowjetunion und da haben sich diese Raumfragen natürlich wieder sehr stark gestellt, insbesondere in Ost-Mitteleuropa.
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Speaker
in Warschau, in Prag, in Bratislava, wollte man auf keinen Fall mehr zu diesem Osteuropa gehören. Und dann sagte man noch in den 2000er Jahren uns in der Zeitschrift, wir haben eigentlich bei euch nichts zu suchen. Ihr behandelt doch sozusagen den post-Sovietischen Raum, den Einflussbereich Moskaus. Wir sind aber Mitteleuropa, die Nachfolge, die Erbe des Habsburger Reichs. Oder wir gehören doch jetzt bald oder schon zur Europäischen Union.
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Speaker
Das hat sich dann doch mit den Jahren sehr stark gelegt.
Vielfalt und Einheit in Osteuropa: Ein komplexes Mosaik
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Speaker
Und wir haben immer daran festgehalten, dass wir schlicht den gesamten Raum behandeln, unabhängig von irgendeiner politischen Implikation, die das hat. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Zeitschrift eine Sonderstellung hat, die man auch nicht aufgeben darf. Es gibt nämlich keine Zeitschrift Westeuropa oder Nordeuropa oder Ähnliches oder Südamerika.
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Speaker
und es ermöglicht ein Zusammendenken von real bestehenden Beziehungen auf den verschiedensten Ebenen. Wir haben eine politische, kulturelle, energiewirtschaftliche Verflechtung.
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Speaker
in diesem Raum oder reflektieren sie zumindest, inwiefern sie zunimmt oder abnimmt, von politischer Bedeutung oder relativ nur von ökonomischer Bedeutung ist. Und natürlich nicht nur jeweils innerhalb des Raums, sondern auch mit dem westlichen Europa, also welches sind die Beziehungen zwischen
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Speaker
Ja, nicht zwischen dem Gesamtraum. Wir fragen nicht, was sind die Beziehungen zwischen Westeuropa und Westeuropa. Das kann man so nicht mehr, schon seit 25 Jahren, seit 30 Jahren nicht mehr fragen, sondern zwischen den Ländern, den Gesellschaften, den Städten, den Künstlern, den Individuen aus dem Raum, aus
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Speaker
Sei es Polen, sei es Tschechien, sei es in Russland, Belgorod ganz im Westen, sei es Vladivostok, sei es Kiew in der Ukraine, sei es Donetsk, sei es Kherson. Aber niemals konstruieren wir eine Einheit Osteuropa, denn die gibt es nicht.
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Speaker
Also es geht auch wirklich dann um Darstellung von Vielfalt, wie sich das im Idealfall auch für Europa darstellt? Wir stellen eben die Frage nach Einheit und Vielfalt. Einheit in der Vielfalt oder auch Vielfalt ohne Einheit.
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Speaker
wissenschaftlich empirische Frage, wie verhält es sich damit? Wir behaupten sie nicht, wir leugnen sie nicht, sondern wir befragen das als etwas, was wir wissen wollen, wie das sich mit der Zeit verändert.
Die Ukraine: Ideologische Konflikte und geopolitische Position
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Speaker
Genau, und Sie hatten ja auch, also ich finde das ganz spannend, das ist ja auch eine Beobachtung, die man als, ich bin ja Politikwissenschaftlerin und sage mal eine Generalistin, die viel Zeitung liest.
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Speaker
Und auf dem Level hatte man ja auch den Eindruck, in den letzten Jahren der Honeymoon osteuropäischer Länder, geografisch betrachtet, mit Europa ist so ein bisschen vorbei. Also Stichwort Ungarn, Stichwort Polen, die sich jetzt für uns aus Deutschland sehr überraschend, sehr europäisch offen verhalten. Mit Blick auf die Flüchtlingsströme, die
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Speaker
unerwartet agieren. Also es gibt ja da immer ganz verschiedene Wirklichkeitsebenen von Erwartungen, die man dann irgendwann hat, dass das immer so sei. Also wir lernen, zumindest ich lerne, sehr viel Neues gerade über die Region, die man gerne ja auch in einen Topf wirft und sagt, ja, das ist dann jetzt das neue östliche Europa und die waren mal im Ostblock und sind es jetzt nicht mehr und haben deswegen
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Speaker
eine Kombination aus Problemen. Dazu passt auch, wenn ich als aus Westdeutschland gebürtige Person jetzt seit vielen Jahren in Leipzig lebe. Auch da gibt es diesen Diskurs ja, gibt es da eine Mentalität, die sich bis heute noch irgendwie fest setzt. Und wir haben dieses Thema natürlich jetzt in enormer Brisanz auch mit der Frage, wer
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Speaker
ist die Ukraine heute. Das ist, finde ich, so eine Kernbeobachtung, das mit dieser These, die Putin nutzt, um es zu rechtfertigen, einzuwandern. Also wir haben die Nazi-These, aber ich finde, dahinter steht die ideologische These eines Großrussischen Reiches. Korrigieren Sie mich gern, aber das ist das, was ich
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Speaker
sehr, das geht ja entgegengesetzt zu all dem, was Sie jetzt gesagt haben, dass es eine Vielfalt gibt, die eigenständig ist und die insbesondere auch die Ukraine betrifft als ein Land, das sich spätestens seit 2013, 2014
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Speaker
in einer eigenständigen Definition von Westlichkeit ist gleich Demokratisierung verstanden hat und damit offensichtlich eine Distanz geschaffen hat und in einen Raum hinein ragt, der mit Blick auf Weißrussland, mit Blick auf Russland, vielleicht auch Georgien, da relativ stark und deutlich
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Speaker
hinsteht und sagt, wir wollen eine bestimmte Art der Demokratie leben und damit vielleicht auch so ein bisschen Sprengstoff in der Region bringt, die vielleicht ursächlich ja auch als als Bedrohungslage gesehen hat. Würden Sie auch sagen, dass die Ukraine in dieser
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Speaker
Positionierung als nicht EU-Land und trotzdem relativ westlich orientiertes Land seit einigen Jahren, da eine Sonderstellung sich erarbeitet hat, die jetzt im negativen Sinne erst mal kulminiert.
Historische Nationenbildung und ihre Auswirkungen
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Speaker
Nein, das ist keine Sonderstellung. Man muss das wirklich im breiten Kontext sehen. Und womit wir es zu tun haben, ist ein langer, langer historischer Prozess der Nationalstaatsbildung. Und dieser Prozess der Nationalstaatsbildung. Und dieser Prozess begann mit der französischen Revolution, mit der Idee der Volksherrschaft. Und in dem Moment, in dem nicht mehr die Fürsten herrschen,
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Speaker
und deren Familien, sondern das Volk stellt sich sofort die Frage, wer ist das Volk? Und Herrschaft bedeutet Herrschaft auf einem Territorium. Und dann stellt sich die Frage, welches Volk herrscht auf welchem Gebiet?
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Speaker
Prozesse der Nationalstaatsbildung, die auf der gesamten Welt zu beobachten sind, sind in Osteuropa etwas später angekommen als in Mitteleuropa oder Westeuropa. Allerdings nur etwas später. Die Nationalbewegungen beginnen dort auch im 19. Jahrhundert.
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Speaker
Und mit dem Zerfall der Reiche des Russischen Reichs, des Habsburger Reichs und des Osmanischen Reichs sind im gesamten Raum zunächst mal Nationalstaaten entstanden.
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Speaker
Und in dem Raum, der später die Sowjetunion wurde, waren diese Nationalstaaten von nur sehr kurzer Dauer. Und zwar deswegen, weil nach der Oktoberrevolution im Bürgerkrieg am Ende die Bolschewiki mit militärischer Oberhand auf der einen Seite und dem Versprechen in der Sowjetunion selber so etwas wie einen Völkerbund
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Speaker
zu organisieren. Also das Leninsche Versprechen war ein Versprechen der Freiheit für die Völker. Unmittelbar in Reaktion auf das amerikanischen Präsidenten Wilsonche Versprechen des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Schon damals haben Washington und Moskau gesagt, für die kleineren Völker Selbstbestimmungsrecht.
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Speaker
Real hat sich die Sowjetunion in den ersten Jahren tatsächlich zum Teil genau um das auch bemüht, um den Aufbau nationaler Strukturen. Das ist in der Sowjetunion 1927 unter Stalin abgebrochen.
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Speaker
worden und ist in das komplette Gegenteil verkehrt worden, nämlich in eine Verfolgung und Ausrottung der nationalen Eliten, insbesondere dann in den 30er Jahren und insbesondere in der Ukraine und Belarus. Es ist aber nicht gelungen, sondern trotz Massenvernichtung der intellektuellen Vertreibung jahrzehntelanger lagerhaft ist die nationale Idee der Selbstbestimmung einfach auf kleinerem Gebiet.
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Speaker
Ja, die Ukraine ist immer noch ein großer europäischer Flächenstaat. Aber Demokratie hat immer etwas auch mit Kleinräumigkeit zu tun. Und je größer der Staat wird, desto schwieriger wird es demokratisch zu organisieren. Und deswegen hat Nationalstaatlichkeit sehr viel mit
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Speaker
Demokratie zu tun.
Post-sowjetische Übergänge: Ein Vergleich zwischen Belarus und Ukraine
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Speaker
Und jetzt haben wir ab dem Jahr 1991 diese Reunion zerfällt. Es gibt Nationalbewegungen, insbesondere im Baltikum, in Georgien und in Belarus und der Ukraine, also in den beiden australischen Staaten.
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Speaker
Dann haben wir unterschiedliche Entwicklungen. Die baltischen Staaten haben mehr die Mitgliedschaft in der Sowjetunion nie anerkannt, sondern sie waren in den 20er und 30er Jahren bereits unabhängig und wurden dann okkupiert, militärisch auch wieder mit Massenerschießung und Verhaftung der Führungsschicht.
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Speaker
In die Syrbete nun eingegliedert und haben gesagt, wir gehören von vornherein nicht dazu. Und das wurde ja auch von den westlichen Staaten so anerkannt. Und deswegen sind sie relativ schnell nach der inneren Transformation 2004 Mitglied der Europäischen Union geworden und kurz davor auch der NATO.
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Speaker
Und jetzt Belarus und die Ukraine gehen auch zwei unterschiedliche Entwicklungen in diesen Jahren, weil in Belarus sich 1994 Alexander Lukashenko durchsetzt und seitdem eine Form der neo-Sovietischen Herrschaft wieder durchsetzt.
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Speaker
mit sozialpolitischen Versprechen zunächst, solange das funktioniert, also keinerlei Wirtschaftsreformen, Stabilität auf sehr niedrigem Level und in dem Moment, weil diese Herrschaft außer dem Brot und der Butter auf dem Brot keine Legitimität
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Speaker
hat, schlägt sie in dem Moment, in dem es etwas freier wird, in Repression um. Und genau das haben wir gesehen. Wir hatten in den Jahren 2015 bis 20 Öffnungen, wirtschaftsliberale Öffnungen in Belarus. Aus der Notwendigkeit heraus, dass diese
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Speaker
zum Teil planwirtschaftartige Ökonomie angetrieben werden musste und das führte automatisch dazu, dass eine Zivilgesellschaft entstanden ist und diese ist im August 2020 auf die Straße gegangen in Massen und dann haben wir diesen
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Speaker
gigantischen Rückschlag erlebt, dieser innere Polizeistaat mit jetzt über tausend politischen Gefangenen, Zehntausenden, die aus dem Land getrieben wurden, weil sie sonst in Haft gegangen wären. Und die Ukraine. Die Ukraine dümpelte, weil sie ein großes Land ist und innen nicht sehr, sehr vielfältig.
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Speaker
mit den verschiedensten Regionen, kulturellen Orientierungen. Teile waren fester im russischen Herrschaftsbereich, auch intellektuell und kulturell verankert. Die westlichen Teile waren viel stärker, auch im Habsburger Reich verankert.
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Speaker
Dürmpelte, würde ich sagen, in den 1990er-Jahren so vor sich
Kulturelle und wirtschaftliche Integration Europas
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Speaker
hin. Es sind keine richtigen Wirtschaftsreformen zustande gekommen. Die Vielfalt war kein Schatz, aus dem man schöpfen konnte, sondern sie war in den 1990er-Jahren eine Blockade. Bis zum Jahr 2004. Dort fand ja auf dem Mainan, also dem Zentralplatz in Kiew, die erste Bürgerrevolution statt. Die sogenannte Orangene Revolution.
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Speaker
Eine Revolution gegen Korruption, gegen Netzwerke aus Moskau, eine Revolution für die Demokratie und für die Freiheit noch gar nicht so stark mit Europa und Europäischer Union verbunden. Natürlich, es rückte näher. Die Vorstellungskraft, dass es möglich sein könnte, wurde dadurch, dass die Osterweiterung der Europäischen Union um
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Speaker
die zehn ostmitteleuropäischen Länder 2004 stattfand, also insbesondere der große Nachbar der Ukraine, Polen, 2004, wurde plötzlich in einem ganz anderen Raum. Polen hat die Grenzen auch offen gelassen, einen kleinen Grenzverkehr, so wie wir in Deutschland sehen, dass Zehntausende Polen in Deutschland leben und arbeiten und Geld verdienen und aber in der alten Heimat
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Speaker
dann Häuser aufbauen oder am Anfang nur Geld geschickt haben, dann Pendelmigration oder dann den Alterssitz aufbauen, fand das eine Stufe unten drunter. Unten drunter im Sinne von die Einkunftsmöglichkeiten waren quasi eine Dimension geringer zwischen Polen und der Ukraine statt. Also wo die Polen und Polinnen in Deutschland waren, weil man dort mehr verdienen konnte, waren dann schon die Ukrainerinnen und Ukrainer und haben die polnischen Plätze.
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Speaker
eingenommen. Und diese kulturelle, ökonomische, politische, aber noch nicht institutionelle Osterweiterung des europäischen Raums bis in die Ukraine hinein, der hat natürlich stattgefunden und wurde immer stärker. Und ganz wichtig, er hat auch um Russland stattgefunden.
Russlands Beziehung zu Europa und strategische Partnerschaften
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Speaker
Russland war von vornherein mitgedacht,
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Speaker
Es ging nie darum, die Staaten westlich Russlands gegen Russland herauszureißen, zu positionieren, sondern die gesamte deutsche und europäische Ost- oder Osteuropapolitik hatte sehr, sehr lange bis zum Schluss. Und heute sagt man ja eben zu lange, war immer die Idee gehabt, das ist nicht gegen Russland, sondern es ist mit Russland.
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Speaker
Die Europäische Union hat zum Zeitpunkt, als die Osterweiterung um die Mitteleuropäischen Länder stattfand, vier gemeinsame Räume mit Russland aufgebaut. Das heißt, verinstitutionalisierte Verbindungen in vier Wirtschaftsbereichen. Mit dem Ziel hier ebenfalls Kooperation, Annäherung gemeinsames Standards.
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Speaker
Es gab die NATO-Rosland-Grundakte, die zustande gekommen ist mit der Osterweiterung der NATO 1997, auch hier wieder ergänzend. Es war stets klar, Russland kann und will nicht aufgrund seiner schieren Größe und aufgrund auch seines Willens zur Eigenständigkeit in diesen Institutionen nicht
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Speaker
als gleicher Untergleichen teilnehmen. Russland will und kann nicht, so wie die Großen in der Europäischen Union das tun, eins zu eins auf Augenhöhe mit Slowenien und Liechtenstein. Das war nicht im Moskauer Horizont und deswegen gab es diese anderen Konstruktionen, wo sich eher die gesamte EU und Russland als Partner gegenüberstehen wollten und sollten.
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Speaker
Und dann beginnt in Russland ab dem Jahr 2000, die Wurzeln sind älter, die gehen bereits leider in die 90er Jahre zurück, wo diese Anfangshoffnungen aus der ganz frühen Zeit gekippt sind.
Putins Machtaufstieg und Russlands innenpolitische Landschaft
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Speaker
sehr stark dann ab dem Jahr 2000 mit der Übergabe der Macht an Vladimir Putin geht das los. Systematische Einschränkungen von Demokratie, von lokaler, regionaler Autonomie,
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Speaker
Es werden die Wirtschaftskräfte, die dann Oligarchen genannt werden, mit dem exemplarischen Fall von der Macht beseitigt. Er wird exemplarisch, weil er derjenige war, der am stärksten Freiheit und Zivilgesellschaft gefördert hat, also auch ein politisches Programm hatte, für zehn Jahre ins Lager gesteckt.
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Speaker
Andere werden ins Exil getrieben und die, die übrig bleiben, werden zu Staatsoligarchen. Immer schärfere Kontrolle und Repression der Zivilgesellschaft. Und damit schwindet die Legitimitätsbasis dieses Regimes.
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Speaker
Und das fällt in den 2000er Jahren eigentlich gar nicht so sehr auf, weil, und das ist wirklich eine schiere historische Koinzidenz und hat keine innere Logik, sondern es ist ein unglücklicher Zufall, Tatsache, dass
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Speaker
Dieser Mann mit seinem Geheimdiensthintergrund, mit seiner ganzen Psyche, die ausschließlich auf Macht, Beherrschung, Dominanz, Abschrecken und Einschüchtern ausgerichtet ist, zu einem Zeitpunkt Nachfolger des schwachen Jelsen wird, als es eine Wende auf den internationalen Ölmärkten gibt.
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Speaker
Die Schwäche Russlands, die manche haben in den 1990er Jahren befürchten lassen, dass es zu einem Staatszerfall kommt, hatte sehr viel mit dem niedrigen Ölpreis in den 1990er Jahren zu tun.
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Speaker
den Niedrigölpreis für den Jahr 1998 zu einem Zusammenbruch des russischen Haushalts. Der Staat ist nicht mehr zahlungsfähig im August 1998. Und im Jahr 2000 kommt dort eine Wende und der Ölpreis klettert in ungekannte Höhen.
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Speaker
Und es fließt eine gigantische Summe an Geld aus Öl und daran gekoppelt im Preis Gas in die russischen Staatskassen. Und das erlaubt dem Regime in den 2000er Jahren eine sehr, sehr breite Massenunterstützung zu gewinnen, weil auch jenseits der Repressionen, die langsam zunehmen, eine städtische Mittelschicht entsteht. Kunst und Kultur wird auch von diesem Geld gefördert.
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Speaker
Also das geht in mehrere Richtungen. Es werden auf der einen Seite die Armee hochgerüstet und auf der anderen Seite Theater gebaut. So, liebe Hörerinnen und Hörer, das war der erste Teil der 20 Blue Minutes Ausgabe, Folge Nummer vier.
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Speaker
Dort haben wir über die historischen Bezüge innerhalb des osteuropäischen Raumes gesprochen, über die Begrifflichkeiten, über Interdependenzen zwischen verschiedenen Kräften und natürlich über die Geschichte des russisch-ukrainischen Konfliktes. Dr. Volker Weichsel von der Zeitschrift Osteuropa hat, finde ich, da supergut Auskunft gegeben. Und ich freue mich, wenn ihr jetzt auch den zweiten Teil nochmal anhören wollt.
00:26:35
Speaker
Dort werden wir uns mit den aktuellen Geschehnissen beschäftigen. Und auch dort, fand ich, hat Dr. Volker Weichsel interessante Einordnungen vorgenommen. Den kleinen Podcast 20 Blue Minutes findet ihr überall dort, wo es gute Podcasts gibt. Und natürlich bei uns auf 20.blue. Bis bald.